Dada New York

Was ist Dada New York? Um dies zu verstehen beginnen wir mit den Aktivitäten, die auch mit dem Label „Dada“ versehen wurden:

Im Jahr 1920 wird in der Pariser Zeitschrift „Littérature“ der Artikel „Dada est américain“ von Walter C. Arensberg, einem New Yorker Literaturwissenschaftler und Kunstsammler, veröffentlicht. Im gleichen Jahr findet in einer New Yorker Galerie ein Symposium der Société Anonyme Inc. statt, von Man Ray, Marcel Duchamp und Catherine Dreier gegründet, auf dem Marsden Hartley seinen Text „The Importance of Being Dada“ vorträgt. 1921 schreibt Tristan Tzara einen Brief an Man Ray und Marcel Duchamp, in dem er deklariert: „Dada gehört jedem!“ Daraufhin machen sich die Empfänger des Briefes an eine einzigartige Publikation, die sie New York Dada nennen. Kurz nach der Publikation reisen Marcel Duchamp und Man Ray nach Paris, wo sie die nächsten Jahrzehnte verbringen werden. Dada in New York findet somit sein jähes Ende.

Aber um zu verstehen, wie es dazu kommt, dass Dada in diesen wenigen Ereignissen seinen Moment  in New York hat, muss man die vorherigen Jahre mit in Betracht ziehen.

1915 kommt Marcel Duchamp nach New York. Er flieht einerseits vor dem Krieg in Europa, andererseits findet er in Paris kein Verständnis mehr für seine Kunstauffassung und hofft in Amerika auf bessere Resonanz zu treffen. In den nächsten Jahren findet sich im Apartment von Walter C. Arensberg eine Gruppe zusammen, die eine neue Avantgarde von New York bilden wird. Neben Marcel Duchamp und Man Ray gehören unter anderem Katherine Dreier, eine New Yorker Künstlerin mit deutschen Wurzeln, Arthur Cravan, ein englischer Intellektueller, und Elsa von Freytag-Loringhoven dazu. Finden sich vielleicht anhand von diesen Personen noch weitere Dada-Momente? Um für die Ausstellung der Independant Artists 1917 zu werben, hielt Cravan eine Vorlesung über “The Independent Artists of France and America”  wobei er das bürgerliche Publikum betrunken beschimpfte und mit Schmutzwäsche bewarf. Und sind es nicht die Provokation und der Skandal, welche man mit Dada verbindet? Auch in Berlin und Zürich haben sich ähnliche provozierende Aktionen ereignet.

Skandalös auf eine bestimmte Art und Weise war die erwähnte Person der Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven. Sie verkleidete sich, rasierte sich den Schädel und trug verrückte Gegenstände als Hut oder gebrauchte sie als Kleidungsstück. Und kennen wir Verkleidungen nicht schon als ein Mittel aus dem Cabaret Voltaire in Zürich?

Bekannt ist außerdem die Tatsache, dass Walter Arensberg und Marcel Duchamp sich gegenseitig immer wieder neue Rätsel in Form von Wortspielen zugeschoben haben. Das Thema Sprache kennen wir schon von den Dada-Zentren in Europa, nicht wahr?

Von den Wortspielen ist der Weg zu Rrose Sélavy (gesprochen wie „Eros, c’est la vie“ deutsch „Eros ist das Leben“) nicht weit. Diesen Namen gibt Marcel Duchamp seinem Alter Ego, das die Gestalt einer koketten Dame annimmt. Er zog dafür Frauenkleider an und ließ sich Man Ray so fotografieren. Eines dieser Bilder wurde zu einer Art fiktiven Werbung verarbeitet und auf dem Cover des erwähnten Magazins „New York Dada“ verwendet. Damit wird die Inspiration der anderen Dada-Bewegungen durch die Werbung aufgegriffen und gleichzeitig das Motiv der Verkleidung wiederholt. Allerdings bringt Duchamp mit der ironischen Überschreitung der Geschlechteridentät ein Thema auf, das bis dahin von anderen Dadas umgangen war. Kann man dies dann dennoch als einen Dada-Moment ansehen? Der Inhalt des Dada-Magazins ist typografisch, aber auch von Texten und Bildern her mit den anderen Dada-Publikationen aus Europa vergleichbar. Nicht vergleichen lässt sich sicherlich das Arensberg-Appartment als Zentrale der New Yorker Avantgarde mit dem Cabaret Voltaire als Mittelpunkt der Dada-Bewegung in Zürich. Dieses war eine öffentliche Künstlerkneipe, in der auf einer Bühne Auftritte stattfanden, wohingegen die Abende in jenem auf privater und diskursiver Ebene stattfanden. Dafür aber gab es in New York noch die Verbindung zu Alfred Stieglitz’ Galerie 291.

Was waren diese Jahre in New York? Gab es Dada in New York? Blickt man auf die Jahre 1915 bis 1921 so zeigen sich einige Momente, die Dada plakatieren. Viel wichtiger ist jedoch, dass sich in diesen Jahren eine Freude an Experimenten in der Kunst entwickelte, was in den Folgejahren noch Auswirkungen haben sollte.

Anna-Lena Brunecker und Carolin Langer

Dada in Berlin

Der deutsche Expressionismus, der sich in Berlin in den Jahren 1910 und 1911 entwickelte, kannte wie keine andere Kulturperiode viele Doppeltalente. Wassily Kandinsky, Oskar Kokoschka, Hans Arp, Kurt Schwitters, George Grosz, Else Lasker-Schüler sind nur die bekanntesten. Der Fokus dieser Künstler lag nicht nur im Bereich des Visuellen, auf der Malerei, sondern forderte das Hinübergreifen in die Dichtung. Die Großstadt Berlin war das Ergebnis eines rasanten wirtschaftlich-industriellen Wachstums seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, welches soziale Konflikte und Missstände mit sich brachte: neben der Schere zwischen Armut und Reichtum, prallten Ausbeutung und Aufstieg aufeinander. Die Großstadtkunst entwickelte sich jedoch nicht auf Grund des wirtschaftlichen Aufschwungs der Kaiserzeit. Sie stand genau im Widerspruch zu deren gesellschaftlichen Voraussetzungen.

Die von Herwarth Walden herausgegebene Zeitschrift Der Sturm war eines der ersten publizistischen Organe des Expressionismus. Die gleichnamige Galerie wurde die Stütze der modernen Kunstströmungen. So stellten neben den Expressionisten auch die Futuristen in der Galerie Der Sturm aus. Walden ermöglichte die Begegnung von Kunst und Literatur und propagierte die Idee des Aufhebens von Grenzen einzelner künstlerischer Bereiche. Und diese Vermischung und Verschmelzung war eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der Dada-Bewegung in Berlin. Die Zürcher Dadaisten interessierten sich für Waldens Sturm-Programm. Bei Walden stellten die großen Künstler aus, die Berliner Dadaisten lehnten jedoch Walden auf Grund dieser Abhängigkeit von ihm ab.

Ende 1918 war die Stadt Berlin zu einer wirren politischen Szenerie geworden. Daraus kristallisierte sich die Dada-Bewegung. Sie war kein bloßer Ableger oder eine Verlängerung der Zürcher Dadaisten. Als Richard Huelsenbeck nach Berlin zurück emigrierte, schrieb er Tristan Tzara nach Zürich, dass Dada in Berlin bereits am Werk sei. Auf einem Expressionistenabend im Januar 1918 in Berlin verkündete Huelsenbeck ganz überraschend Dada und dies stellt die Geburtsstunde des Club Dada dar. Im April desselben Jahres fand eine Soiree statt, an der das dadaistische Manifest verlesen wurde. Die wichtigsten Namen der Berliner Dadaisten waren Richard Huelsenbeck, Wieland Herzfelde und John Heartfield, George Grosz, Walter Mehring, Johannes Baader, sowie Raoul Hausmann und seine Lebensgefährtin Hanna Höch. Man wollte mit Dada nicht nur provozieren, sondern sich auch etablieren: Hausmann und Huelsenbeck schwebte eine Galerie Dada vor. Sie wollten ein Konkurrenzunternehmen zum Sturm schaffen. Jedoch schien Dada bereits 1918 unterzugehen. Erst im April 1919 fand sich der Club Dada wieder zu einer Gruppe zusammen. Die Mitglieder gaben sich Dada-Titel: Baader war Oberdada, Hausmann Dadasoph, Grosz Propagandadada, Heartfield Monteurdada, Herzfelde Progressdada, Mehring Pipidada.

Nach einigen erfolglosen Versuchen, fand vom 30. Juni bis zum 25. August 1920 die Erste Internationale Dada Messe in Berlin statt. Initiator war der bereits erwähnte Club Dada, im Besonderen die drei Protagonisten der Berliner Dada-Bewegung George Grosz, Raoul Hausmann und John Heartfield. Die Ausstellung fand in zwei Räumen der Kunsthandlung von Dr. Otto Burchard statt. Die Ausstellung umfasste mehr als 160 Werke von mehr als 28 Künstlern. Mit siebzehn Künstlern, stammte ein Großteil der Ausstellenden aus Berlin, sechs aus anderen deutschen Städten, sowie vier aus dem europäischen Ausland, einer aus den USA. Die internationale Beteiligung war vor allem ein Verdienst des Kölner Dadaisten Max Ernst, der Werke von Hans Arp aus Zürich und Francis Picabia aus Paris nach Berlin brachte. Zuvor waren diese Werke auf den zwei Kölner Dada-Ausstellungen 1919 und 1920 gezeigt worden. Jedoch unterhielt Hans Arp ebenfalls private Kontakte zu den Berliner Dadaisten und dem Malik-Verlag, dem Verlag von Wieland Herzfelde, der für zahlreiche Dada-Publikationen verantwortlich war. Intensive internationale Beziehungen gab es allerdings nur zwischen Huelsenbeck, selbst aus Zürich nach Berlin gekommen, und Johannes Baader mit Hans Arp und Tristan Tzara, über den die Berliner Dadaisten von den Entwicklungen in Zürich und Paris erfuhren. Max Ernst und Francis Picabia distanzierten sich nach der Dada-Messe recht schnell von Berlin Dada.

George Grosz, Raoul Hausmann, Johannes Baader und John Heartfield die vier Hauptakteure auf der Dada-Messe, waren mit den meisten Werken vertreten. Richard Huelsenbeck war dagegen mit keinem Werk vertreten. Grund dafür waren Streitigkeiten besonders mit Hausmann im Vorfeld der Messe, woraufhin sich Huelsenbeck bereits im Frühjahr 1920 von der Gruppe distanzierte.

Die Dada-Ausstellung wurde Messe genannt, die ausgestellten Werke als Erzeugnisse tituliert. Ziel war es, die herkömmliche Kunstausstellung mittels der Betonung des Warencharakters der ausgestellten Werke zu unterlaufen. Im Katalog der Messe wurde zugleich die Aufhebung des Kunsthandels propagiert. Das Spiel mit Wiedersprüchen scheint bei Dada eine große Rolle zu spielen.

Kernaspekte der Berliner Dadaisten und der Ersten Internationalen Dada-Messe lassen sich an einigen ausgestellten Objekten erkennen: So war Dada sicherlich ikonoklastisch ausgerichtet. Dabei richtet sich die Bewegung nicht per se gegen das Kunstwerk selbst, sondern gegen den Kunst- und Kulturkanon des Bürgertums. Es sollen dabei keine Werke geschaffen werden die Bestand haben. Damit ist Dada ebenfalls im gewissen Sinne antibürgerlich ausgerichtet. Dies wird in einigen Werken und Parolen Raoul Hausmanns deutlich, in denen alles, was dem Bürger in den Nachkriegsjahren lieb und teuer ist, auf den Kopf gestellt wird. Dada verschließt sich mit seinen Erzeugnissen wie Montagen, Collagen, Bildmanipulationen und weltkriegskritischen Werken vollkommen dem Kunstmarkt und Geschmack der Nachkriegszeit. Dada ist dabei durchaus politisch, so beispielsweise in Werken wie Gott mit uns von George Grosz und Otto Dix 45% erwerbsfähig, die sich gegen den Militarismus positionieren und die Schuld am Krieg den passiven, konsumierenden Bürgern zuweist, die nach dem Krieg noch immer den reaktionären Kräften hinterherlaufen. Neben dem politischen Element, das sich besonders in der Ablehnung des Militarismus äußert, ist auch eine anarchistische Grundhaltung zu bemerken. Dada lehnt jegliche Politik gänzlich ab, besonders in den Werken Hausmanns wird diese ins Lächerliche gezogen. Ebenfalls kann Dada als antireligiös benannt werden, da in Werken wie der preußische Erzengel, eine Gemeinschaftsarbeit von John Heartfield und Rudolf Schlichter, und der Mappe Gott mit uns, die Druckgraphiken von George Grosz enthält, dem christlichen, protestantischen Glauben, der mit dem preußischen Militarismus eine Symbiose eingegangen war, eine wesentliche Kriegsschuld zugewiesen wird.

Oftmals wird Dada Berlin lediglich auf den politischen Aspekt reduziert, doch ist dies zu kurz gegriffen. Die Bewegung in Berlin muss im Kontext einer Zeit, die sich nach den Kriegswirren in einem fundamentalen gesellschaftlichen Umbruch befand, gesehen werden. Dabei stellt Dada Berlin keine homogene Gruppe dar, sondern ist eine Ansammlung unterschiedlichster Künstlerpersönlichkeiten, die unterschiedlichen Kunstströmungen entspringen und sich für kurze Zeit unter dem Namen Dada zusammenschlossen. Die Erste Internationale Dada-Messe stellt dabei den Höhepunkt und den letzten Versuch, eine Gruppe zu formen, dar. In der Folgezeit widmeten sich die Künstler eigenen Projekten.

Stephan Kuhn, Eugenia Weinstein

 

Weiterführende Literatur

Georg Brühl, Herwalth Walden und „Der Sturm “, 1983.

Hanne Bergius, Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen, 1989.

Hanne Bergius, Montage und Metamechanik; Dada Berlin – Artistik von Polaritäten, Berlin 2000.

Wolfgang Paulsen, Deutsche Literatur des Expressionismus, hg. von Hans-Gert Roloff, Bd. 40: Germanische Lehrbuchsammlung, 2. überarb. Auflage, Berlin 1998.

Berlin 1910-1930. Die visuellen Künste, hg. von Eberhard Roters, Berlin 1983.

Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland, hg. von Eberhard Roters, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie, Berlin 1988.

Dada und der anti-zivilisatorische Impuls

„Negerkunst“ im Dadaismus

Zanzibar

o mam re de mi ky/ nous avons échappé au Wahha, ha ha

So lauten die ersten Zeilen des dadaistischen Gedichts Zanzibar von Tristan Tzara. Angewidert vom ersten Weltkrieg, entwickelten die Dadaisten in Zürich eine Kunst ohne Sinn, die gegen gesellschaftliche Ideologien ihrer Zeit rebellierte. Die Fremdheit afrikanischer Kunst wurde von Dada eingesetzt, um eine Kunst der unverfälschten Reinheit wiederzufinden. Dabei fällt auf, dass es weniger um die wahrheitsgetreue Wiedergabe afrikanischen Kulturguts ging – Tzaras Gedicht ist mit Ausnahme einiger französischer Worte in einer erfundenen Sprache verfasst – sondern um die Abgrenzung von anderer europäischer Kunst durch die Ausrichtung am ‚Primitiven‘. Ästhetik drückte sich durch die Verwendung einer eigenen, religiös angehauchten Sprache, die von keinem Sinn mehr abhängig war, aus.

In Note sur l’art nègre beschreibt Tzara exemplarisch wie „Negerkunst“ von Dada aufgegriffen, beziehungsweise pauschalisiert wurde. Durch die Stigmatisierung als rein, naiv und primitiv wird deutlich, dass Tzaras Anschauung bedingt durch europäische Klischees und Werbung entstanden war. Nicht nur Tzara, auch Hugo Ball teilte diese Sicht der Dinge: „Die stärkste Verwandtschaft haben ihre Werke noch mit den Angstmasken der primitiven Urvölker, den Pest- und Schreckensmasken der Peruaner, Australier und Neger.“, schrieb er über die Künstler der Zeit. Diese aus heutiger Perspektive problematische Beurteilung von Afrikanern als primitiv, diente den Dadaisten als Leitvorstellung, sich gegen die eigene Kultur, die den Krieg gewähren ließ, zu stellen. „Er plädiert dafür, daß man den Rhythmus verstärkt (den Negerrhythmus). Er möchte am liebsten die Literatur in Grund und Boden trommeln.“, schrieb Ball über Huelsenbeck in seinem Tagebuch.  Die rückläufige, ‚primitive‘ Entwicklung der Dada-Bewegung in Zürich war darauf angelegt, ihr Publikum zu provozieren und schockieren. In der Tat waren die Zuschauer sprachlos, nachdem bei einer „soirée Dada“ ein Tanz, der einem ‚primitiven‘ Ritual nachempfunden sein könnte, aufgeführt worden war. Er versetzte seine Darsteller in einen Zustand der „motorischen Gewalt“ und ermöglichte ihnen den Zugang zu intuitivem Handeln. Diese Wirkung wurde, Balls Darstellung nach, durch die von Marcel Janco angefertigten Masken, die grob, wie von Kindern gefertigt waren, hervorgerufen. Das von Dada konstruierte Konzept einer „Negerkultur“ weist auf das Prinzip der Untrennbarkeit von Kunst und Lebenseinstellung hin. Die Vorstellung eines ursprünglichen, spontanen Ausdrucks verhalf  Dada dazu, sich von der vernunftgelenkten ‚Zivilisation‘ abzuheben. Der Sketch le célèbre illusioniste, der 1920 aufgeführt wurde, stellte den ‚Neger‘ auf satirische Weise dar: Philippe Soupault öffnete hierzu mit schwarz gemaltem Gesicht einen Koffer und ließ die darin befindlichen Luftballons mit einem Messer platzen. Auch hier zeigt sich die Ablehnung des Sinngehalts als Provokation auf den bestehenden Kunstbegriff und das Verlangen nach Befreiung aus der konservativen Zivilisation, dargestellt auf parodistische Weise, die an das weiße Publikum herantreten sollte. Dada verwendete die vermeintliche ‚Negerkunst‘ bewusst für sich, um einen vollkommen neuen ästhetischen Moment zu kreieren.

Sophia Caglayan

 

Weiterführende Literatur

Jan Gerstner, Die absolute Negerei. Kolonialdiskurse und Rassismus in der Avantgarde, Marburg: Tectum 2007.

Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts, hrsg. von William S. Rubin, München: Prestel 1984.

Tristan Tzara, Notes sur l’art nègre. In: Œuvres complètes, Bd. 1, hrsg. von Henri Béhar, Paris: Flammarion 1975.

Die drei Gesichter der Galerie Dada

oder Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks

Die Galerie Dada bildete den letzten wichtigen Meilenstein von Dada Zürich, für den sich alle aus dem Cabaret Voltaire bekannten Akteure noch einmal vereinten. Sie befand sich in der Bahnhofstraße 19 in Zürich und wurde am 17. März 1917 eröffnet. Zuvor befand sich in den gleichen Räumen die Galerie Corray, in der die Dadaisten im Januar 1917 gemeinsam mit dem Besitzer Han Corray die 1. Dada Ausstellung veranstaltet hatten. Danach übernahmen Hugo Ball und Tristan Tzara die Leitung der Galerie, beides keine bildenden Künstler und beide nicht mit kuratorischer Arbeit vertraut. Diese Aufgabe wurde durch die Übernahme von Wanderausstellungen, wie z. B. der „Sturm-Ausstellung“ Herwarth Waldens, Anderen überlassen. Der Schwerpunkt lag zwar grundsätzlich auf der Förderung neuester Kunst, die heute als typisch dadaistisch angesehenen Collagen und Masken Hans Arps und Marcel Jancos spielten in der Galerie jedoch keine große Rolle. Ein gezielter Fokus auf einzelne Künstler wurde durch Vorträge gelegt, die einen weiteren Teil des Konzepts ausmachten. Hervorgehoben wurden dabei Paul Klee und Wassily Kandinsky, deren Kunst als revolutionär und wegweisend für die neue Zeit dargestellt wurde.

Anders als im Cabaret Voltaire lag das Augenmerk auf der bildenden Kunst. Diese wurde aber zusätzlich mit anderen Künsten verknüpft: neben Führungen und Vorträgen bildeten Soiréen einen festen Bestandteil des Konzepts, die in ihrem Programm ans Cabaret Voltaire erinnerten. Diese Abende unter standen einem festen Motto, demzufolge das Programm zusammengestellt wurde. Wegen der Verbindung von Musik, Kunst und Literatur sprach Ball in seiner autobiographischen Aufzeichnung „Die Flucht aus der Zeit“ von der Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks. Die unterschiedlichen konzeptuellen Aspekte ergaben den Charakter der Galerie, den Ball folgendermaßen zusammenfasste: „Die Galerie hat drei Gesichter. Tagsüber ist sie eine Art Lehrkörper […]. Am Abend […] ein Klub der entlegensten Philosophen. An den Soiréen aber werden hier Feste gefeiert von einem Glanz und Taumel, wie Zürich sie bis dahin nicht gesehen hat.“ (Die Flucht aus der Zeit, 10. Mai 1917).
Bereits Ende Mai 1917 wurde der Betrieb der Galerie wieder eingestellt, was mit der mangelnden beruflichen Qualifikation der Akteure, dem fehlenden Inhalt der Galerie und dem damit verbundenen ausbleibenden dauerhaften Erfolg zu begründen ist. Ball und Tzara gingen daraufhin im Streit auseinander. Ball verließ Zürich und kehrte Dada den Rücken zu.

Verena Westenweller

Dada-Propaganda

Von Anfang an betrieben die Dadaisten eine ganz gezielte Propaganda, die in verschiedenen Medien wie Plakaten, Manifesten, Publikationen, Handzetteln und Zeitschriften ihre Verbreitung fand. Dabei wurden die Techniken und Formen der massenmedialen Propaganda  gezielt kopiert und parodiert.

Bereits 1916 wurde in Anlehnung an das Cabaret Voltaire mit der Publikation eines gleichnamigen Sammelbandes unter der Leitung Hugo Balls begonnen. Ein wichtiges Vorbild hierfür war der “Blaue Reiter”, ein Almanach der 1912 von den Expressionisten Wassily Kandinsky und Franz Marc zusammengestellt wurde. Bei den Dadaisten ging es dabei um die Förderung unterschiedlicher künstlerischer Richtungen, die  hauptsächlich Dichtung und bildende Kunst umfassten. Hinzu kommt der Einbezug ausländischer Künstler und verschiedenster Stile. Diese inhaltliche Vielseitigkeit macht deutlich, dass die Züricher Gruppe rund um Hugo Ball keine Antwort auf die Frage “Wer sind wir eigentlich?” geben konnte oder wollte.

Neben jeglichem künstlerischen Anspruch, spielte auch die Finanzierung des eigenen Lebensunterhaltes eine entscheidende Rolle für die Dadaisten. Alle Aufgaben in Zusammenhang mit der Herausgabe der Publikation wurden selbst übernommen, mit der Begründung, dass man den Experten nicht trauen könne. Das Ergebnis dieser Einstellung waren Kontrolle, Eigenprofit und eine ganze Menge Arbeit.

Das “Cabaret Voltaire” erschien nur ein einziges Mal. Es folgte 1917 die Zeitschrift “Dada” unter Tristan Tzara in drei Ausgaben. Richard Huelsenbeck publizierte 1920 in Zusammenarbeit mit den Berliner Dadaisten den “Dada Almanach”, eine Art Jahrbuch mit einem Querschnitt durch das gesamte Schaffen der künstlerischen Bewegung. Unter der Ägide von Huelsenbeck und Johannes Baader kam es zu einer ganzen Fülle an weiteren Zeitschriften wie u.a. “Der blutige Ernst” oder “Die Pleite”. Auch wenn sich diese stark von der Gesinnung Hugo Balls und den Anfängen in Zürich unterscheiden, kann gesagt werden, dass Dada sich als künstlerische Bewegung ganz wesentlich durch und in der Fabrikation von Propagandamaterial konstituiert.

Lisa Michels

Weiterführende Literatur

Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern: Stocker, 1946. Günther Eisenhuber, Manifeste des Dadaismus: Analysen zu Programmatik, Form und Inhalt, Berlin: Weidler, 2006.

Richard Sheppard, Zürich-Dadaco-Dadaglobe: the correspondence between Richard Huelsenbeck, Tristan Tzara and Kurt Wolff (1916 – 1924), Tayport: Hutton-Press, 1982.

Dada goes Gaga

„Rah rah ah ah ah. Ro ma ro ma mah. Ga ga ooh la la.“

Das sind nicht etwa Verse eines von Hugo Ball verfassten Lautgedichtes, nein. Mit diesen Wortschnipseln pusselt Stefani Joanne Angelina Germanotta, eine amerikanische Sängerin – bekannt unter dem Künstlernamen »Lady Gaga« – den Chrous zu ihrer Single »Bad Romance«, aus dem Jahr 2009. Mancher Auffassung nach gilt sie als zeitgenössische Erscheinung der »Dada-Baroness«, Elsa von Freytag-Loringhoven. So auch in den Augen von Adrian Notz, dem Direktor des Cabaret Voltaire und Co-Kurator der Austellung »Genese Dada«. Spricht Gaga demnach DADA? Streng genommen nicht.

DADA war in seinen Zürcher Anfängen literarischer Natur. Mit sinnfreien Lautgedichten, wie etwa Hugo Balls »Karawane« („jolifanto bambla ô falli bambla…“), sollte die Sprache in die Wiege ihrer Unschuld zurückversetzt werden. Sie sei verdorben und unmöglich, so Ball. „Das Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozess verdeutlichen. In typischer Verkürzung zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstricktenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind.“ [Hugo Ball] Nicht sie machen Unsinn, sondern Unsinn ist die Wirklichkeit, erklärte Kurt Schwitters. Kunst sollte nicht länger in Abgrenzung zum Alltag wahrgenommen werden. Sie soll vermenschlicht werden. Kurz: Die Dadaisten verweigerten sich allem Etabliertem. Vielmehr noch sagten sie den bisherigen Traditionen, in Zeiten zahlreicher kulturgeschichtlicher Umbrüche, wollüstig den Kampf an.

Als es die DADAs peu à peu nach Berlin, New York, Paris bis Köln und Hannover zog, nahm ihre Kunst immer mehr Gestalt an. Etwa in Form von Collagen – das bedeutsamste dadaistische Mittel – in denen „mal absurd, mal poetisch, mal giftig satirisch zusammengefügt wurde, was ursprünglich nicht zusammengehört hatte.“ [Boris Hohmeyer] So bietet DADA, Raoul Schrott zufolge, nicht nur eine Bestandaufnahme des Alten, sondern zementiert den Weg zu dem, was die Popmusik am Anfang des 21. Jahrhundert ausmacht: Die gesamte Ästhetik der Videokunst, des Digitalen. Was sich bereits in DADA-Collagen, wie einst von Hans Arp und Sophie Täuber-Arp, finden lässt. Ist es also weniger die DADA-Sprache, die Gaga ausmacht, als vielmehr eine Ästhetik, mit einem Hauch DADA.

Gemein haben sie ihre negierende, rebellische Attitüde – gegenüber festgefahrener Anschauungen, wie auch gegenüber der Konsumgesellschaft. Angesichts dem Video zu »Alejandro« machte man Gaga den Vorwurf der Blasphemie. In einer transparenten Nonnen-Kutte – unter der ein Slip, geziert mit einem umgekehrten roten Kreuz, zum Vorschein kommt – rekelt sie sich in einer Schar nackter Männer-Oberkörper. Eine Provokation ganz im Sinne der DADA-Kunst. So oszilliert der Gesamteindruck in einer Vielzahl ihrer Performances zwischen DADA und POP. Dennoch bleibt Gaga als Geste des DADA zu verstehen. Als DADA-Beigeschmack sozusagen. Als vermittele sie einem ein gewisses Gefühl davon, wie man sich einen jener Abende im Cabaret Voltaire vorstellen könne.

Claire Zimmermann

Dada-Sprache

„Alle lebendige Kunst aber wird irrational, primitiv und komplexhaft sein, eine Geheimsprache führen und Dokumente nicht der Erbauung, sondern der Paradoxie hinterlassen“ (Hugo Ball, 1915, Flucht aus der Zeit)

Die Lautgedichte gehören zu den wertvollsten Zeugnissen des Dadaismus. Obwohl auf den ersten Blick unsinnig und inhaltslos erscheinend, beinhalten sie den programmatischen Kern der frühen Züricher Dadaisten. Hugo Ball, Mitbegründer des Cabaret Voltaire, nimmt in diesem Rahmen eine Schlüsselrolle ein. Durch seine Inszenierung im Juni 1916 als magischer Bischof, gilt er bis heute als Pionier auf dem Gebiet der Lautdichtung.

In den Zeiten des Ersten Weltkriegs und der damit verbundenen Kriegspropaganda, beginnt Balls Kritik bei dem Gebrauch der Sprache als rein funktionales Kommunikationsinstrument. Zudem verabscheut er den Materialismus und die fortschreitende Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens wie sie im Sprachgebrauch des Bildungsbürgertums zum Ausdruck kommen. Aufgrund dieses Missbrauchs seien die konventionellen Worte unbrauchbar geworden.

Als logische Konsequenz daraus, sieht er den kompletten Verzicht auf die traditionelle Sprache als gangbaren Weg an. Ein Künstler soll nicht fremde Worte benützen müssen, sondern in einem schöpferischen Akt eigene Worte finden. Dies ermöglicht die Rückbesinnung auf das Wesentliche; den Ur-Sinn.

Die „Wortlosigkeit“ der Lautdichtung ermöglicht unmittelbare Eindrücke im Gegenüber und konstituiert damit eine Ästhetik der Assoziationen. Auf diese Weise birgt der Protest gegen die herkömmliche Sprache einen Schaffensmoment. Er liegt in der Entstehung und gleichzeitigen Überwindung von Paradoxen. Das Losmachen von Sinn und Annehmen der Unmittelbarkeit lässt einen Moment totaler Indifferenz eintreten, in welchem Gegensätze verschmelzen. Es entsteht eine unverbrauchte Geheimsprache, lingua divina, die nur der Künstler kennt.

Dada spielt mit Unsinn. Wie in der Lautdichtung findet sich im Moment der Überwindung von Sinn und (konventioneller) Ordnung die Möglichkeit des Unmittelbaren. Wie Kandinsky schon sagte: „Abstraktion heißt hier nicht gegenstandslos, sondern ‘konkret‘.“ (Über das Geistige in der Kunst).

Anna-Stephanie Gurt

Dada – Kunst und Bühne

Rudolphe Salis, Frank Wedekind, Alfred Jarry, Wassily Kandinsky, Hugo Ball. – Le Chat Noir, Die Elf Scharfrichter, „Ubu Roi“, „Über Bühnenkomposition“, „Das Neue Theater“.
Dies sind die Namen von Personen, Institutionen und Schriften, welche maßgeblichen Einfluss auf die Theater- bzw. Bühnenreform des ausgehenden 19. Jahrhunderts nahmen. Rudolphe Salis gab Künstlern in dem Anfang der 1880er Jahre in Paris gegründeten Kabaretts „Le Chat Noir“ die Mög-lichkeit, eigene Kompositionen persönlich zu präsentieren. Das Aufführen von Sketchen und das Vortragen satirischer Gedichte und Aufsätze im kleinen Rahmen, der das Publikum miteinbezog, wurden später auch bei den „Elf Scharfrichtern“ in München und der Züricher Künstlerkneipe „Cabaret Voltaire“ eine beliebte Form der gesellschaftskritischen Unterhaltung. Vor allem auf die erwähnte Interaktion mit dem Publikum wurde großer Wert gelegt, das durch seine Reaktion das Bühnengeschehen aktiv mitgestalten sollte. Die Inszenierungen der Dadaisten folgten keinem vor-gefertigten, gut durchstrukturierten Drehbuch, sondern waren vielmehr auf Spontanität und im-provisierte Dialoge mit einzelnen Zuschauern ausgelegt. Die Trennung zwischen Bühnen- und Zu-schauerraum wurde somit nicht nur architektonisch weitestgehend aufgehoben, sondern auch mit-tels aktiver Handlungen minimiert. Das Publikum agierte sozusagen als Co-Produzent des Bühnen-geschehens. Mit diesem Anliegen griffen die Künstler im „Cabaret Voltaire“ auf eine Idee zurück, die ein französischer Schriftsteller bereits einige Jahrzehnte zuvor umzusetzen sich bemüht hatte. Durch die bewusste Provokation der Theaterbesucher in seinem bekanntesten Werk „Ubu Roi“, gelang es Alfred Jarry das Pariser Publikum aus der Reserve zu locken und das Theaterwesen des späten 19. Jahrhunderts in Aufruhr zu versetzen. In dem systematischen Bruch mit gesellschaftli-chen und ästhetischen Normen und Wertvorstellungen liegt eine weitere Parallele zu der späteren Züricher Künstlervereinigung. Es scheint naheliegend von einer mehr oder weniger direkten Be-zugnahme auf eine dieser Aufführungen „König Ubus“ zu schließen, wenn Hugo Ball 1914, noch vor der Gründung des Cabaret Voltaire, seine Vorstellungen des Theaters in einem Text für den geplanten, dann ab er nie erschienenen Almanach „Das Neue Theater“ wie folgt beschreibt:

„Das expressionistische Theater, so lautet meine These, ist eine Festspielidee und enthält eine neue Auffassung des Gesamtkunstwerkes. Die Kunstform der gegenwärtigen Theater ist impres-sionistisch. Die Vorgänge wenden sich an den Einzelnen, an den Verstand. Das Unterbewußte wird nicht gestört. Das neue Theater wird wieder Masken und Stelzen benützen. Es will die Urbil-der wecken und Megaphone gebrauchen. Sonne und Mond werden über die Bühne laufen und ihre erhabene Weisheit verkünden.“ (Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern: Stocker 1946, S. 12)

Masken und Stelzen – beides sind Requisiten, die bei den Inszenierungen zum Werke Alfred Jarrys zum Einsatz kamen. Aber auch die Stilisierung und bildliche Vereinfachung verschiedener Elemente sind wesentlicher Bestandteil des Theaterstücks. Und obwohl Kandinsky erst 1911, knapp fünfzehn Jahre nach der Uraufführung von „Ubu Roi“, seinen Aufsatz „Über Bühnenkomposition“ publizierte, scheinen seine wesentlichen Forderungen in diesem Stück bereits erfüllt. Die Fusion aller Künste unter Beibehaltung ihrer Individualität und somit deren gleichwertige Behandlung ist für den Russen oberstes Gebot. Die Idee des Theaters als „Gesamtkunstwerk“ wird nicht zuletzt von den Künstlern des der Züricher Künstler-kneipe wiederaufgenommen und in die eigenen Inszenierungen integriert. Sowohl die bildende Kunst als auch Literatur, Musik und Tanz werden in die Soiréen des „Cabaret Voltaire“ mit einbezogen. Hierbei lassen sich die Mitglieder der Künstlerkneipe ebenso von kabarettistischen Arbeiten wie auch von Aspekten des „klassischen“ Theaters inspirieren, sodass die Grenzen der beiden Gattungen verschwimmen. Es etablierte sich eine Form des Schauspiels, die nicht mehr ausschließlich den höher gestellten Schichten, d. h. der gesellschaftlichen Elite, vorbehalten war, sondern sich viel mehr an ein bunt gemischtes Publikum richtete und der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurde.

Danika Helbing

Künstlerkneipe Voltaire

Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges zog es viele Intellektuelle und Künstler, aufgrund der in der Schweiz vorherrschenden Pressefreiheit und seiner politischen Neutralität, in das Nachbarland. Zu den Emigranten zählte auch der Deutsche Hugo Ball, der gemeinsam mit seiner späteren Lebensgefährtin Emmy Hennings im Herbst 1915 nach Zürich zog.

Ball hatte zuvor in München als Dramaturg und Regisseur gearbeitet, Hennings war eine Kabarettsängerin und bekannte Tänzerin. Daher bot es sich für beide an, auch in der Schweiz ihren Lebensunterhalt im Unterhaltungssektor zu verdienen, zudem entwickelten sie Pläne für die Eröffnung eines Cabarets.

Dafür wurde ein kleiner, mit einer Bühne ausgestatteter Raum von dem Wirt Jan Ephriam, der die Gaststätte „Meierei“ in der Spiegelgasse 1 betrieb, zur Verfügung gestellt. Seit dem Eröffnungsabend am 5. Februar 1916 fand hier zunächst täglich außer freitags und später (aufgrund der hohen Nachfrage) die ganze Woche über ein variierendes Abendprogramm statt. Benannt wurde die Künstlerkneipe nach dem französischen Aufklärer Voltaire, der auch ein politischer Pamphletist war und mit dem Roman Candide oder die beste aller Welten (1759) ein Meisterwerk philosophischer Satire geschaffen hat.

Das Plakat für die Eröffnungsveranstaltung wurde von dem Künstler Marcel Slodki angefertigt.

Ball, der mit der Künstlerkneipe Voltaire einen Ort für die Synthese der verschiedenen Kunstgattungen schaffen wollte, verstand sich selbst als Initiator dieser Veranstaltungen und warb für eine für Jedermann offene Bühne. Dadurch wurde eine Art Plattform geschaffen, auf welcher Künstler unterschiedlichster Nationalitäten eigene und fremde Texte, Musik, Tanz und Kunst präsentieren konnten.

Schnell bildete sich eine Kerngruppe an Mitwirkenden heraus, welche aus Ball, Hennings, Marcel Janco, Tristan Tzara, Hans Arp und dem, im Februar 1916 angereisten, Richard Huelsenbeck bestand. So entwickelte sich die Künstlerkneipe immer weiter weg von ihrer anfänglich traditionellen Kabarettform und hin „zum Tummelplatz verrückter Emotionen“ (Ball, Flucht aus der Zeit, 26.02.1916). Es wurden geradezu chaotische Experimente durchgeführt, darunter literarische Versuche wie die Geräuschgedichte, das Simultangedicht oder Lautgedicht. Um die Vorgänge im Cabaret Voltaire – wie die Künstlerkneipe schließlich benannt wurde – zu dokumentieren wurde im Mai 1916 der gleichnamige Sammelband publiziert, welcher der Gruppe die Möglichkeit eröffnete, ihre Ideen auch außerhalb Zürichs zu propagieren. Bereits Ende Juni 1916 wurde das Cabaret Voltaire wieder geschlossen.

Katharina Massing

Das Cabaret Voltaire existiert noch heute. Hier gibt es ein spannendes Interview mit dem Direktor Adrian Notz.

Weiterführende Literatur

Hugo Ball, Flucht aus der Zeit, Luzern 1946.

Richard Sheppard, Dada Zürich in Zeitungen. Cabarets, Ausstellungen, Berichte und Bluffs, Siegen 1992.

Raimund Meyer, Dada in Zürich. Die Akteure, die Schauplätze, Frankfurt am Main 1990.

Miklavz Prosenc, Die Dadaisten in Zürich, Bonn 1967.